Der eine Bewerber läuft freudig auf dem grünen Blitz nach oben (Gewinn), der andere freudig auf dem roten Blitz nach unten (Verlust). Beide zeichnen die Entscheidungswege der Verlustaversion nach.

Die Verlustaversion des Bewerbers im Recruiting ist ein Ausschnitt der Verlustaversionen in den Human Resources. Sie betrifft die Absage von Bewerbungen im Recruiting, während andere Verlustaversionen bei Kündigungen auftreten. Die Verlustaversion ist wohl die wichtigste Erkenntnis der Verhaltensökonomie. Sie ist nicht mit dem Endowment-Effekt zu verwechseln; denn sie befasst sich nicht mit dem Wert des Besitzes, sondern mit der Veränderung des Vermögens.

Verlustaversion

Bevor auf die Verlustaversion des Bewerbers eingegangen wird, ist die Verlustaversion generell darzustellen. Sie ist eine wichtige Erkenntnis der Verhaltensökonomie durch die Psychologen Daniel Kahneman (geb. 1934) und Amos Tversky (1937 – 1996), die sie 1979 als Bestandteil der Neuen Erwartungstheorie gewonnen  haben. Die Verlustaversion weist auf die Tendenz hin, dass die handelnden Personen einen Verlust negativer als einen Gewinn positiv empfinden.

Verlustangst

Die Verlustaversion ist nicht mit der Verlustangst zu verwechseln.

Verlustangst bei Kindern

Die Verlustangst, auch Trennungsangst genannt, ist ein Phänomen der Psychologie zwischenmenschlicher Beziehungen. Bei Kindern ist sie eine normale inhaltlich unbegründete Angst, die zur Entwicklung der Persönlichkeit gehört. Sie tritt auf, wenn die Kinder von engen Bezugspersonen wie Eltern getrennt werden, etwa sobald sie sich in die Kita verabschieden, oder vor dem Einschlafen. Sie wird zur Störung, wenn sie sich nicht mit zunehmendem Alter verliert.

Verlustangst bei Erwachsenen

Bei Erwachsenen richtet sich die Verlustangst auf Partner, Freunde oder Familienangehörige. Sie ist eine oft unerkannte oder unterschätzte Störung, die verschiedene Ursachen haben kann.

Im Gegensatz zur Verlustangst von Kindern ist sie nicht auf die Sicherung des Überlebens gerichtet, die sich im Laufe der Entwicklung auswächst, sondern neigt zur krankhaften Verfestigung im Charakter.

Verärgerung über Verlust

Die Verlustaversion ist weder Angst noch Störung, sondern ein Empfinden negativer Gefühle. Sie ist keine Angst vor wirtschaftlichem Verlust, sondern eine Verärgerung darüber, dass ein Verlust eingetreten ist. Die Verlustaversion kann nicht mit einem gleich hohen Gewinn besänftigt werden. Ein Verlust von 100 Euro wird intensiver als ein Gewinn von 100 Euro empfunden.

Zusammenfassung zur Verlustangst

Verlustangst ist eine Störung zwischenmenschlicher Beziehungen, die bei Erwachsenen oft unterschätzt wird. Verlustaversion ist dagegen ist eine Verärgerung über einen Verlust, ohne dass ein Gewinn in gleicher Höhe Freude auslöst.

Grundlagen der Verlustaversion

Die Grundlagen der Verlustaversion ergeben sich aus verschiedenen psychologischen Betrachtungen.

Weber-Fechner-Gesetz

Das Weber-Fechner-Gesetz formuliert eine psychophysische Beziehung in der Sinnenphysiologie.

Ernst Heinrich Weber

Der Physiologe und Anatom Ernst Heinrich Weber (1795 -1878) war Mitbegründer der experimentellen Psychologie. Er beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen den Sinnesempfindungen und den Reizen, die sie bewirkt haben. So stellte er fest, dass Reize im hohen Bereich mehr verstärkt, im niedrigen Bereich weniger verstärkt werden müssen, damit ein Betrachter eine Veränderung bemerkt.

Gustav Theodor Fechner

Der Philosoph, Physiker und Psychologe Gustav Theodor Fechner (1801 – 1887) war Begründer der Psychophysik, die sich mit der Beziehung von Geist und Materie befasst. Den physikalischen Objekten wie Licht, Ton oder Geld stehen subjektive Wahrnehmungen wie Helligkeit, Lautstärke oder Wert gegenüber. Fechner suchte nach einer Verbindung zwischen der subjektiven Wahrnehmung des Betrachters und den Reizen, die von den Objekten ausgehen. Er fand heraus, dass eine Erhöhung der Reize um einen bestimmten Faktor immer einen entsprechenden Zuwachs in der Wahrnehmung auslöste.

Gesetz

Fechner fügte dem Weber-Gesetz im Jahre 1860 eine Ergänzung der festen Beziehung von Reiz und Objekt hinzu. Er hatte erkannt, dass die erlebte und die physikalische Reizstärke nicht in einer linearen, sondern in einer logarithmischen Beziehung zueinanderstehen. Die Intensität der Empfindung ist nämlich zum Logarithmus der Stärke des auslösenden Reizes proportional. Das Weber-Fechner-Gesetz war entstanden.

JND

JND (just noticeable difference, differentielle Wahrnehmbarkeitsschwelle) ist ein Sonderfall des Weber-Fechner-Gesetzes. Sie bezeichnet einen gerade noch wahrnehmbaren Unterschied. Wer bei 80 kg 20g an Körpergewicht verliert, bemerkt den Gewichtsunterschied nicht. Wenn er aber 100g Gewürze bestellt, jedoch nur 80g erhält, erkennt er diesen Unterschied von 20 g sehr wohl.

Zusammenfassung zum Weber-Fechner-Gesetz

Das Weber-Fechner-Gesetz formuliert in der Psychophysik die Beziehung zwischen Objekt und dessen Wahrnehmung. Auch im Grenzbereich der Wahrnehmbarkeit liegt der gerade noch wahrnehmbare Unterschied von Variablen bei der proportionalen Stärke der Reize.

Daniel Bernoulli

Gedanken zur Psychophysik, wie sie 1860 von Fechner entworfen wurde, hatte der Schweizer Mathematiker Daniel Bernoulli (1700 – 1782) bereits 1738 in einem Aufsatz veröffentlicht.

Nutzen

So hatte Bernoulli eine Verbindung vom Nutzen eines Geldbetrages, den er Begehrtheit nannte, zu dem Geldbetrag selbst hergestellt. So bereite jemandem, der über 100 Dukaten verfüge, der Zuwachs von 10 Dukaten denselben Nutzen wie einem anderen, dem bereits 200 Dukaten gehören, eine Erhöhung um 20 Dukaten. Wie das Weber-Fechner-Gesetz besagt, ist auch hier der Nutzen eine logarithmische Funktion des Vermögens.

Risikoscheu

Seine Überlegungen zum Nutzen ergänzte Bernoulli durch Beobachtung der Risikoscheu vieler Zeitgenossen. Das Risiko in einem Glücksspiel besteht darin, einen niedrigen oder gar keinen Gewinn zu erhalten. Selbst wenn der Erwartungswert in einem Glücksspiel über dem einer sicheren Geldanlage liegt, entscheiden sich die Leute für die sichere Variante. Sie haben also eine Verlustaversion.

Nutzeneinheiten

Aus den Vermögenswerten und den Zuwächsen berechnete Bernoulli eine Nutzenfunktion, die er in Nutzeneinheiten präzisierte. Aus einer Tabelle von Nutzeneinheiten wird deutlich, dass jemand mit einem Vermögen von 10 Millionen, der 1 Million verliert, sich für weniger geschädigt als jemand mit einem Vermögen mit 5 Millionen hält, der denselben Betrag einbüßt. Daraus wird erklärlich, warum arme sich von reichen Leuten gegen Vermögenseinbußen versichern lassen.

Zusammenfassung der Nutzentheorie

Die Verlustaversion ist die Komponente, um die Bernoulli die Psychophysik von Fechner vorweggenommen hat. Sie baut auf der Erkenntnis des Zusammenhangs von Reiz und Objekt auf und ergänzt ihn um die Einführung von Nutzeneinheiten. So wird die Risikoscheu eingearbeitet, die sich nach den Vermögenszuständen richtet.

Daniel Kahnemann und Amos Tversky

Mit Neue Erwartungstheorie haben Kahnemann und Tversky eine Alternative zur Erwartungsnutzentheorie aufgestellt.

Referenzpunkte

Die Neue Erwartungstheorie führt Referenzpunkte zur Bewertung von Vermögensveränderungen ein. So beträgt der Referenzpunkt von Jack 1 Million und von Jane 9 Millionen. Die Zahlen beschreiben die Vermögen beider von gestern. Heute haben beide ein Vermögen von 5 Millionen.

Nach Bernoulli ist die Veränderung beider Vermögen gleich groß, weil jeweils ein Vermögenszustand von 4 Millionen bewegt worden ist. Die Zufriedenheit mit der Vermögensveränderung spielt keine Rolle.

Nach Kahnemann und Tversky kommt es bei der Bewertung der Vermögen auf die Vermögensveränderung anhand der Referenzpunkte an. Danach ist Jack zufriedener als Jane, denn er hat heute 5 Millionen mehr, sie hingegen 5 Millionen weniger Geld.

Findet keine Bewegung des Vermögens statt, ist der Referenzpunkt null. Enttäuschungen über einen Verlust können in Neue Erwartungstheorie nicht abgebildet werden. Bereuen wird nicht berücksichtigt.

Asymmetrie der Verlustaversion

Die Verlustaversion veranlasst die Leute in positiven wie in negativen Situationen zu geändertem Verhalten. In positiven Fällen ziehen sie Vermögensveränderungen in einer vorherbestimmbaren Größenordnung den ungewissen vor, auch wenn auf Ungewissheit beruhende Spekulationen höhere Zuwächse bewirken können.

In negativen Konstellationen bevorzugen sie das Risiko in der Hoffnung, dass Spekulationen den befürchteten Vermögensverlust in Grenzen halten. Per Saldo wird ein Verlust als stärker empfunden, als Gewinne zur Freude Anlass geben. Diese Asymmetrie findet in der Evolution ihre empirische Bestätigung; denn Lebewesen, die auf Bedrohungen stärker reagieren, haben größere Überlebenschancen als diejenigen, die sich auf ihr Glück verlassen.

Zusammenfassung zu Neue Erwartungstheorie

Kahnemann und Tversky haben die Neue Erwartungstheorie entwickelt, die als drittes Prinzip

die Verlustaversion enthält. Sie beschreibt eine Asymmetrie im Empfinden von Verlust und Gewinn, die zu bemerkenswerten Fehlentscheidungen führen kann.

Zusammenfassung der Grundlagen

Die Grundlagen zum Verständnis der Verlustaversion, die nicht mit der Verlustangst zu verwechseln ist, beginnen mit der Psychophysik, wie sie im Weber-Fechner-Gesetz dargelegt ist. Bernoulli, der die Psychophysik für die Veränderungen von Vermögenszuständen vorausgeahnt hatte, begründete die Verlustaversion mit seinen Beobachtungen zur Risikoscheu. Vollendet wurde das Prinzip durch Kahnemann und Tversky, die den Schwerpunkt ihrer Überlegungen auf die Zufriedenheit mit Vermögensveränderungen legten. Zudem erkannten sie die Asymmetrie in der Wahrnehmung von Bedrohungen und Chancen.

Verlustaversion eines Bewerbers

Die Verlustaversion des Bewerbers ist ein Phänomen im Recruiting, dem bisher zu wenig Beachtung geschenkt worden ist. Sie ähnelt zwar dem Endowment-Effekt, ist aber nicht mit ihm zu verwechseln; denn der Endowment-Effekt bezieht sich auf den Besitz des Arbeitsplatzes des Bewerbers. Die Verlustaversion des Bewerbers bewertet die Veränderung der mit einem Stellenwechsel verbunden Vermögenswerte. Maßstab ist die Zufriedenheit mit der vorhandenen Position im Vergleich zum Jobangebot, begleitet von der Asymmetrie in der Wahrnehmung von Bedrohungen und Chancen.

Beispiel für die Verlustaversion eines Bewerbers

Die Verlustaversion des Bewerbers lässt sich nachvollziehbar anhand eines Beispiels aus der Praxis erläutern, das kurz vor der Krise des Coronavirus begann und im Verlauf von ihr beeinflusst wurde.

Sachverhalt

Der Sachverhalt betrifft einen Fall, in dem die Verlustaversionen des Bewerbers zwischen seiner Position und dem Jobangebot hin und her wechseln.

Direktansprache des Bewerbers

In Ausführung seines Auftrages, einen Vertriebsleiter zu finden, sprach ein Personalberater den Vertriebsleiter eines benachbarten Unternehmens direkt an. Das Jobangebot enthielt nicht nur die Übernahme der Vertriebsleitung, sondern auch die Aussicht, dass der Vertriebsleiter in die Geschäftsführung aufsteigen könne.

Der Angesprochene, der über 50 Jahre alt war, verfügte über eine langjährige Berufserfahrung. Er hatte sie bei seinem jetzigen Arbeitgeber erworben, der in der Branche als im Vertrieb erfolgreich galt.

Zudem kannte der Vertriebsleiter den Auftraggeber des Personalberaters aus der Teilnahme an Sitzungen einer gemeinsamen Kommission, die der Überwachung eines fairen Wettbewerbs der Unternehmen in der Region diente.

Ohne Zögern zeigte sich der angesprochene Vertriebsleiter interessiert und versprach, am kommenden Wochenende seine Bewerbungsunterlagen zusammen zu stellen.

Hintergrund der Direktansprache

Üblich sind Sperrvermerke bei der Vergabe von Aufträgen an Personalberatungen. Sie umfassen in der Regel die Unternehmen in der Nachbarschaft; denn gute Beziehungen sollen durch Abwerbungen nicht gestört werden. Häufig wissen aber die Nachbarn auch darüber Bescheid, dass der Auftraggeber eine Stelle zu besetzen hat.

So hatte ein Unternehmen aus der Nachbarschaft einen gemeinsamen Nachbarn übernommen. Um Synergie-Effekte zu erzielen, wechselte es die Führung der Vertriebsabteilung des gekauften Unternehmens direkt aus, so dass deren Leiter überflüssig geworden war. Deshalb nahm der Käufer zum Auftraggeber des Personalberaters Kontakt auf und teilte ihm mit, dass er gegen eine Direktansprache seines Vertriebsleiters nichts einzuwenden habe.

Absage durch den Bewerber

Mitte der Woche erreichte den Personalberater eine einzeilige E-Mail des Vertriebsleiters, die eine unbegründete Absage des weiteren Bewerbungsverfahrens enthielt.

Der Personalberater war überrascht; denn er hatte dem Vertriebsleiter eine passende Position mit Aufstiegspotenzial angeboten, die angesichts dessen bevorstehender Kündigung sogar die nahtlose Fortsetzung seiner Tätigkeit bedeutet hätte. Eine Arbeitslosigkeit des Vertriebsleiters wäre auch angesichts seines Lebensalters 50+ zu vermeiden gewesen (siehe auch Blog-Beitrag „Altersdiskriminierung von Bewerbern“).

Telefonat mit dem Bewerber

Kurz nach Eintreffen der E-Mail rief der Personalberater den Vertriebsleiter an, um den Grund für die Absage erfahren. Der Bewerber teilte ihm mit, dass er am Vortag einen Aufhebungsvertrag zur Unterzeichnung bekommen habe. Deshalb halte er die Direktansprache für ein abgekartetes Spiel. Der neue Eigentümer der Firma wolle ihn loswerden. Mit der Abfindung werde er sich eine Auszeit nehmen und danach in den Beruf zurückkehren.

Von einem abgekarteten Spiel könne keine Rede sein, erläuterte der Personalberater; denn der neue Arbeitgeber hätte in einem solchen Fall keinen Aufhebungsvertrag anzubieten brauchen, sondern die Entwicklung der Bewerbung abwarten können. Bei positivem Ausgang hätte er sogar eine Abfindung gespart.

Seine Bewerbung hätte gute Chancen gehabt, weil beide Seiten sich aus gemeinsamer Arbeit in der Kommission kennen und eine Einarbeitung in die angebotene Position nicht erforderlich sei.

Das Jobangebot warte nicht auf die Rückkehr des Bewerbers aus seiner Auszeit, so der Hinweis des Personalberaters im Telefonat. Es werde auftragsgemäß zeitnah besetzt. Zudem solle der Bewerber bei der Beurteilung seiner Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht vergessen, dass er bereits über 50 Jahre alt sei.

Beurteilung des Sachverhaltes

Die Entscheidungen des Sachverhalts sind danach zu beurteilen, ob und wie sie unter dem Einfluss der Verlustaversion stehen.

Zusage des Bewerbers bei der Direktansprache

Durch den Personalberater angesprochen, hatte der Vertriebsleiter einer Bewerbung sofort zugestimmt, aber sich eine Woche Zeit für die Erstellung der Unterlagen erbeten. Für ihn war das Jobangebot mit Aufstieg in die Geschäftsführung eine positive Vermögensveränderung.

Eine Verlustaversion, die angebotene Stelle nicht zu bekommen, hatte er offenbar nicht. Sonst hätte er es mit der Bewerbung eiliger gehabt.

Absage per E-Mail

Bei der Absage per E-Mail lag dem Vertriebsleiter bereits die Fassung eines Aufhebungsvertrages durch den neuen Eigentümer vor. Aus der Direktansprache und dem Vorliegen des Aufhebungsvertrages schloss der Vertriebsleiter auf ein abgekartetes Spiel zwischen dem neuen Inhaber und dem Auftraggeber des Personalberaters. Er solle aus seiner Position verdrängt werden. Deshalb versandte er seine Absage per E-Mail ohne Begründung.

Auf dieser Grundlage hatte der Vertriebsleiter die Vermögensänderung neu bewertet und war zu der Auffassung gelangt, das Jobangebot sei weniger als seine jetzige Position wert. Eine Verlustaversion sei nicht mehr erforderlich, obwohl sich die Werte beider Funktionen nicht verändert hatten. Den Einfluss des Aufhebungsvertrages hatte er nicht berücksichtigt.

Mit der Umkehr seiner Einschätzung hatte der Vertriebsleiter den Besitz seiner derzeitigen Aufgabe im Sinne eines Endowment-Effekts hoch gestuft. Gleichzeitig hatte er mit der Absage des Jobangebots seine Verlustaversion von der angebotenen Aufgabe auf die aktuelle Position umgeleitet.

Nachfasstelefonat mit dem Bewerber

Der Personalberater versuchte mit einem Telefonat, den Bewerber zu einer neuen Bewertung der Vermögensveränderung zu bewegen und die Verlustaversion wieder auf das Jobangebot zu lenken.

Abgekartetes Spiel

Das Vorliegen eines abgekarteten Spiels hatte der Personalberater schlüssig zurückgewiesen. Es hätte im Übrigen die Vermögensänderung auch nicht beeinflusst; denn der Bewerber wäre auf die Position mit dem aus seiner Sicht höheren Wert gewechselt. Die Verlustaversion hätte gegenüber dem Jobangebot bestehen bleiben müssen.

Wert des Aufhebungsvertrages

Der Aufhebungsvertrag beeinflusst zwar die Vermögensveränderung bei Annahme des Jobangebots nicht direkt. Da er aber neben dem Anstellungsvertrag unterzeichnet werden durfte, hätte er die positive Vermögensveränderung des Positionswechsels verstärken können.

Die Abfindung aus dem Aufhebungsvertrag wird nämlich für den Verlust des Arbeitsplatzes bezahlt. Wenn nun durch den nahtlosen Stellenwechsel die Abfindung nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts benötigt wird, ergänzt der Wert des Aufhebungsvertrages die positive Vermögensveränderung bei Unterzeichnung des Anstellungsvertrages.

Mit der Kombination aus Anstellung und Vertragsaufhebung wäre eine Wertsteigerung des Jobangebots verbunden gewesen und ein weiterer Grund für eine Verlustaversion entstanden.

Rückkehr als Vertriebsleiter

Auch die Rückkehr des Bewerbers als Vertriebsleiter hatte der Personalberater in seinem Telefonat thematisiert, um den Wert seines Jobangebotes zu erhöhen. Er hatte unwidersprochen unterstellt, dass der Angerufene den Aufhebungsvertrag unterschreiben und nach aufgebrauchter Abfindung wieder auf dem Arbeitsmarkt erscheinen werde.

Die jetzt angebotene Stelle werde bald besetzt sein. Das vom Personalberater für die Zukunft ausgemalte Verlustszenario lenkt die Verlustaversion ebenfalls auf das Jobangebot zurück. Der Arbeitsplatz ist demnächst wertlos, weil er durch den Aufhebungsvertrag vernichtet wird. Die Rückkehr des Bewerbers in eine Vertriebsleitung ist auch angesichts seines Alters 50+ längst nicht sicher.

Mit der Beobachtung verbunden, dass Verluste asymmetrisch stärker als Gewinne empfunden werden, hätte die Summe der Verlustgründe den Bewerber zu einer Erhöhung der Verlustaversion veranlassen müssen. Im Ergebnis wäre die Annahme des Jobangebots mit seiner positiven Vermögensveränderung die richtige Entscheidung gewesen.

Reaktion des Bewerbers

Auf die Argumente des Personalberaters hatte der Vertriebsleiter abweisend reagiert, insbesondere, weil er den Wert eines Aufhebungsvertrages unterschätzt hatte.

Der Aufhebungsvertrag stellte klar, dass der Arbeitsplatz des Bewerbers durch eine Kündigung bedroht war, sofern der Bewerber das Angebot nicht annehmen sollte. Der Besitz des Arbeitsplatzes war damit einer negativen Vermögensveränderung unterworfen worden, die gegen null ging.

Im Gegensatz zum Besitz hatte der Verlust des Arbeitsplatzes einen eigenen Wert; denn das Kündigungsschutzgesetz sieht eine Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes vor. So enthielt der vorgelegte Aufhebungsvertrag ein außergerichtliches Angebot, den mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu erwartenden Vermögensverlust zu mildern. Die Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes entsprach den gesetzlichen Vorgaben.

Per Saldo entwickelte sich die durch die Abfindung ausgelöste Vermögensveränderung am Arbeitsplatz negativ, während die Vermögensveränderung im Jobangebot positiv blieb.

Der Bewerber hatte die beiden Vermögensänderungen nicht miteinander verglichen und deshalb fehlerhaft die Verlustaversion am inzwischen wertlos gewordenen Besitz des Arbeitsplatzes ausgerichtet.

Lehre aus dem Beispiel

Die Lehre aus dem Beispiel ist, dass Positionswechsel immer auch unter dem Aspekt der damit verbundenen Vermögensveränderungen zu betrachten sind.

Die Verlustaversion im Beispiel richtet sich auf das falsche Vermögen; denn der Bewerber hatte das Jobangebot mit der Aufstiegsmöglichkeit in die Geschäftsführung unterbewertet. Er hatte den Wertverlust übersehen, dem sein Arbeitsplatz durch die Kündigung ausgesetzt war. Stattdessen wertete er den Aufhebungsvertrag als Stärkung seiner aktuellen Position. Deshalb empfand er ihren Verlust stärker als den Gewinn einer geschäftsführenden Vertriebsleitung in der angebotenen Position.

Aufgrund dieser Fehleinschätzung fällt mit der Absage die falsche Entscheidung.

Ergebnis zur Verlustaversion des Bewerbers

Die Verlustaversion des Bewerbers ist ein wichtiges Kriterium für die Bewertung von Positionen im Recruiting. Sie beeinflusst mit dem Erwartungswert, der sich aus der Vermögensveränderung ergibt, die Wechselwilligkeit des Bewerbers.

Da sie den Verlust stärker negativ als den Gewinn positiv berücksichtigt, bedarf sie der Korrektur nach objektiven Kriterien. Sonst trifft der Bewerber bereits zu Beginn des Recruiting eine unbedachte Entscheidung. Schon der Dichter und Satiriker Horaz (Quintus Horatius Flaccus, 65 – 8 v. Chr.) lieferte in der Antike ein Beispiel für eine Verlustaversion: „Lieber einen Freund verlieren als einen guten Witz.“ (Satiren 4, 34).

Call-to-Action

Die Blog-Beiträge „Endowment-Effekt in den Human Resources“ und „Altersdiskriminierung von Bewerbern“ eignen sich zur ergänzenden Lektüre, ebenso der Beraterbrief „Verlustangst bei fallenden Printauflagen“ (Dezember 2016) auf www.kettembeil.de

Fazit

Die Verlustaversion des Bewerbers im Recruiting ist ein Teil der Verlustaversionen in den Human Resources. Als Errungenschaft der Verhaltensökonomie kann sie zu der Bewertung von Positionen dienen und die Entscheidung über Absage und Zusage zu einem Jobangebot beeinflussen. Da sie eine Asymmetrie enthält, bedarf sie der Korrektur durch weitere objektive Kriterien; denn generell neigt eine Person dazu, Verluste stärker zu empfinden als sich an Gewinnen zu erfreuen.

Die Verlustangst hat nichts mit der Verlustaversion gemeinsam. Ihre Grundlagen entstammen der Psychophysik, in der die Objekte und die Wahrnehmung der von ihnen ausgehenden Reize in Beziehung gesetzt werden. Daniel Bernoulli hat die Erkenntnisse der Psychophysik auf die Veränderung von Vermögenszuständen bezogen.

Die Neue Erwartungstheorie hat die Betrachtung der Vermögenszustände auf die Wahrnehmung von Vermögensveränderungen verlagert und um Erkenntnisse zur Asymmetrie ergänzt, die bei negativen und positiven Vermögensveränderungen herrscht. Im Recruiting hat die Verlustaversion des Bewerbers die Asymmetrie zu berücksichtigen.

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